„Besitzergreifung“ und strukturelle Entwicklungen nach 1815

Auf dem Wiener Kongress (1814-1815), der nach der militärischen Niederlage Napoleons eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu schaffen suchte, erhielt Preußen als Ersatz für die an sich gewünschte Annexion des Königreiches Sachsen eine Kompensation durch die Übertragung relativ heterogener Territorien im Westen des ehemaligen Reiches, womit sich das schon vor der Französischen Revolution bestehende preußische Herrschaftsgebiet im Westen ganz erheblich erweiterte. Noch von Wien aus erließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. am 5. April 1815 entsprechende „Besitzergreifungspatente“ sowie einen Aufruf „An die Einwohner der mit der preußischen Monarchie vereinigten Rheinländer“. Bei der Übernahme der rheinischen und westfälischen Territorien im Westen vollzog Preußen eine fundamentale Veränderung der Tektonik seines Staates mit enormen Langzeitwirkungen.

Königliche Adresse, "An die Einwohner der mit der preußischen Monarchie vereinigten Rheinländer", Friedrich Wilhelm III., Wien 5. April 1815, Druck bei Beaufort, Aachen © LVR-Niederrheinmuseum Wesel, Leihgabe: Privatbesitz

Mit der Einführung der preußischen Verwaltung im April 1816 wurden die neuen preußischen Gebiete am Rhein in zwei Provinzen organisiert. Es entstand das „Großherzogtum Niederrhein“ (die neu gebildeten Regierungsbezirke Aachen, Koblenz und Trier) mit zentralem Verwaltungssitz in Koblenz und der „Oberpräsidialbereich der Herzogtümer Jülich, Kleve und Berg“ („Provinz Kleve-Berg“, die neu gebildeten Regierungsbezirke Köln, Düsseldorf und Kleve) mit Sitz in Köln. Insgesamt wurde der gesamte Raum nach einheitlichen Vorgaben zu einem geschlossenen Verwaltungsgebiet entwickelt – mit der Installierung der neuartigen Landräte kam zudem eine weitere Ebene hinzu. Dass die Umsetzung der preußischen Verwaltungsmacht bis hin zur untersten Ebene der Bürgermeistereien insgesamt als erfolgreich angesehen werden kann, zeigen gerade neueste Untersuchungen zum ländlichen rheinischen Raum und zu Großstädten wie Köln.

Mit Initiativen der preußischen Herrschaft wie der Errichtung der Rheinischen Universität in Bonn 1818, der Einrichtung der Kunsthochschule in Düsseldorf 1819 oder der Initiative zu einem Museum „vaterländischer Alterthümer“ in Bonn 1820 gab es in der ersten Phase der preußischen Herrschaft am Rhein durchaus erkennbare Angebote einer aktiven Integrationspolitik.

Nach dem Tode des Kölner Oberpräsidenten Friedrich Graf zu Solms-Laubach (1769-1822) im Frühjahr 1822 wurden aufgrund einer Verordnung vom 27. Juni 1822 beide Provinzen zusammengelegt und der Sitz des Oberpräsidenten für die „Rheinprovinz“ (der Begriff setzte sich dann um 1830 durch) in Koblenz installiert. Die Leitung dieses einheitlichen rheinischen Oberpräsidiums übernahm der bisherige Koblenzer Oberpräsident Karl Heinrich Ludwig Freiherr von Ingersleben (1753-1831). Die Zusammenlegung der beiden Provinzen zu einer „Rheinprovinz“ war nicht nur ein Akt der Verwaltungsvereinfachung, sondern stellte auch einen Einschnitt in der rheinischen Geschichte dar, denn das „Rheinland“ wurde praktisch zum ersten Mal in seiner Geschichte ein einheitliches Verwaltungsgebiet. Trotz der Anbindung an Preußen erhielten sich aber im Rheinland über das Jahr 1815 hinaus historisch bedingte Eigenheiten, etwa die französische Rechtstradition, bekannt als „Rheinisches Recht“, die auch dafür sorgten, dass die „Rheinprovinz“ im preußischen Staatsverbund eine gewisse Sonderrolle einnahm. 

Literatur:

Thomas Becker/ Dominik Geppert/ Helmut Rönz (Hg.), Das Rheinland auf dem Weg nach Preußen 1815-1822, Köln [u.a.] 2019

Jürgen Herres, „Und nenne Euch Preußen!“ Die Anfänge preußischer Herrschaft am Rhein im 19. Jahrhundert, in: Helga Schnabel-Schüle/ Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt/Main etc. 2006, S. 103-137

Jürgen Herres und Bärbel Holtz, Rheinland und Westfalen als preußische Provinzen (1814-1888), in: Georg Mölich / Veit Veltzke / Bernd Walter (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 113-208

Manfred Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen. Studien zu Kontinuität und Wandel am Beginn der preußischen Herrschaft, Köln [u.a.] 1992

Georg Mölich, Wie das „Rheinland“ preußisch wurde. Zur Konstruktion einer Region im 19. Jahrhundert, in: Konrad Breitenborn/ Kathrin Pöge-Alder (Hg.), 1815-2015. 200 Jahre Preußische Provinz Sachsen, Halle 2018, S. 37-49

Unterthemen: 

> Der frühe Rheinische Provinziallandtag

>Der Fall Fonk und das Französische Recht in der Rheinprovinz

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Karte: Die Rheinlande nach 1815
Die Rheinlande nach 1815 © Irmgard Hantsche