Heeres- und Verfassungskonflikt
Die Mängel der Landwehr waren um 1850 nicht mehr zu übersehen und auch die Schlagkraft des Stehenden Heeres hatte durch eine sehr reduzierte Ausschöpfung der Wehrkraft immer weiter abgenommen. Die Notwendigkeit einer Heeresreform war bis ins Lager der Opposition anerkannt, als der Prinzregent und spätere König Wilhelm l und Kriegsminister General Albrecht von Roon (1803-1879) die Reform 1859 in Angriff nahmen: Vergrößerung des aktiven Friedensheeres auf ca. 200.000 Mann, Zurückstufung der Landwehr und ihre Entfernung aus dem mobilen Feldheer sowie drei- statt bisher zweijährige aktive Dienstzeit. Die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses lehnte die beiden letzten Schwerpunkte der Reformvorlage ab, bewilligte 1860 jedoch provisorisch zusätzliche Haushaltsmittel.
Die weitere Auseinandersetzung bündelte sich um die Fragen der königlichen Kommandogewalt und des parlamentarischen Budgetrechts. Beides war in der Verfassung von 1850 garantiert. Dabei blieb offen, ob sich aus dem Budget- auch ein Mitspracherecht in militärischen Fragen ergab, und ob auch ohne parlamentarische Bewilligung Staatsausgaben getätigt werden durften. Krone und Regierung setzten die Heeresreform weiter um, und das Parlament strich die dafür vorgesehenen Mittel konsequent aus dem Etat. Eine linksliberale Gruppe trennte sich im Januar 1861 von der Hauptfraktion ab, was zur Gründung der Fortschrittspartei führte. Diese hatte in der Rheinprovinz, besonders im wirtschaftlich aufgestiegenen mittleren Bürgertum, eine große Anhängerschaft.
Schließungen des Parlaments und darauffolgende Neuwahlen bescherten den Konservativen desaströse Niederlagen und den Liberalen im Mai 1862 eine überwältigende Mehrheit mit 230 (davon 133 Fortschrittler) von 329 Sitzen. Preußen stand dicht vor der Einführung einer parlamentarischen Monarchie oder aber vor der staatsstreichartigen Abschaffung des konstitutionellen Systems, wofür ultrakonservative Militärs plädierten. Der am 23. September 1862 als „Krisen-Nothelfer“ berufene Otto von Bismarck setzte die Heeresreform ohne parlamentarisch bewilligtes Budget im Kern durch. Der neue Ministerpräsident stützte sich dabei auf die faktischen Machtmittel Armee und Verwaltung.
Die Rheinprovinz bildete eine starke Bastion der liberaldemokratischen Opposition. Nach erneuter Auflösung des Parlaments stellte das Kölner Abgeordnetenfest am 18./19. Juli 1863 einen Höhepunkt des „passiven Widerstands“ (Thomas Parent) gegen die Regierungspolitik dar. Das Festprogramm mit 53 rheinischen und westfälischen Abgeordneten und mehreren Hundert geladenen Gästen fand unter großer Beteiligung der Bevölkerung statt.
Unter dem Eindruck des triumphalen militärischen Erfolges der modernisierten preußischen Armee und des außenpolitischen Gewinns im Deutschen Krieg billigte das Abgeordnetenhaus 1866 gegen die Stimmen der Fortschrittler rückwirkend Bismarcks Regierung ohne Budgetbewilligung (Indemnität). Auch Bismarcks erfolgreiche Aktivität in der nationalen Frage, Freihandel und wirtschaftliche Prosperität hatten zunehmend die oppositionelle Geschlossenheit des liberalen Bürgertums untermininiert.
Eine Konsequenz des beigelegten Verfassungskonflikts war dann auch die endgültige Spaltung des Liberalismus in Preußen und Deutschland durch die Gründung der Nationalliberalen Partei 1866. Langfristige preußische Vermächtnisse an das 1871 gegründete Deutsche Reich bestanden in der Erhaltung der monarchischen Prärogativen, insbesondere in Bezug auf das Heer, sowie ein politisch-praktisches Übergewicht von Krone und Regierung gegenüber dem Parlament.
< Zurück zum Oberthema "Preußisches Militär in der Rheinprovinz"