August von Hardenberg und die Menschen im Rheinland 1815–1822
Als Karl August von Hardenberg am Tag vor Heiligabend im Jahr 1817 am Sitz des Oberpräsidenten der späteren Rheinprovinz in Koblenz eintraf, schien er bereits zu ahnen, was auf ihn zukommen sollte und kündigte Gespräche mit den „Eingeborenen“ (AAZ Nr. 353, 19.12.1817) in der Presse an. Der Grund dafür war, dass seinem obersten Dienstherrn, König Friedrich Wilhelm III., und dessen Sohn wenige Wochen zuvor während ihres ersten Besuchs im Rheinland zahlreiche Bitten und Beschwerden überreicht worden waren, die Hardenberg aus einzelnen ihm zugesandten Bitt- und Denkschriften „Ueber die künftige Verfassung der deutschen Länder des linken Rhein-Ufers“ (Hetzrodt 1814) und andere Anliegen der Einwohnerinnen und Einwohner bereits kannte. Allen voran hatten die Städte Trier, Koblenz und Köln den König höchstpersönlich an sein im Besitzergreifungspatent verbürgtes Versprechen erinnert, eine „Repräsentation“ einzurichten und eine Verfassung für die preußische Monarchie gemäß Artikel 13 der Bundesakte zu erlassen. Sie traten mit diesen selbstbewussten Forderungen eine Petitionswelle los, die rückblickend als Verfassungsbewegung bezeichnet wird, und Hardenberg bei seiner Ankunft am Rhein unmittelbar überrollte (Herres, S. 43–45; Faber, S. 264–327).
So hielten es nicht nur die Stadträte von Trier und Köln für sinnvoll, ihre bisher unbeantworteten königlichen Immediat-Eingaben nochmals zu wiederholen, dem Staatskanzler durch Deputationen an seinem Aufenthaltsort im nahe Koblenz gelegenen Schloss Engers zu überreichen und um weitere Partikularinteressen wie die Beibehaltung der französischen Verbrauchssteuer oder des Kölner Stapelrechts zu ergänzen (HAStK 400 A209, Kronik 1818, S. 11–13). Auch schickten sich die Vertreter der anderen großen Städte an, dem Wunsch nach einer „dem Zeitgeiste gemäßen ständigen Verfassung“ (StATr Tb 100/6, 11.8.1817) beizupflichten und eigene Ansprüche innerhalb des zu organisierenden Staatswesens zu stellen. Dass sie diese Ansprüche nicht primär beim König, sondern bei seinem Staatskanzler verteidigten, lässt sich auf Hardenbergs Ruf als Vertreter einer fortschrittlichen preußischen Reformbürokratie zurückführen (Hermann). Denn in Übereinstimmung mit den Verfassungsadressen von Rhein und Mosel hatte er „demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung“ in seiner berühmten Rigaer Denkschrift von 1807 als „angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist“ (Hardenberg) bezeichnet (Schmitz).
Die Bevölkerung konnte die Geschehnisse in der Presse mitverfolgen und zu Beginn des Jahres 1818 aufsehenerregende Berichte über „Die Uebergabe der Adresse der Stadt Koblenz und der Landschaft an Se. Majestät des König, in öffentlicher Audienz bei Sr. Durchl. dem Fürsten Staatskanzler“ (SAZ Nr. 18–24 vom 12.2.1818–24.2.1818) von Joseph Görres lesen. Dabei hatte der populäre Publizist in Absprache mit dem Koblenzer Oberbürgermeister nach eigenen Angaben „vier, fünf, oder noch mehrere tausend Unterschriften der angesehensten Einwohner des Landes“ gesammelt und sie Hardenberg am 12. Januar 1818 übergeben. Begleitet wurde er von einem repräsentativen Kollektiv aus wohlhabenden Kaufleuten, Stadträten, Verwaltungsbeamten und Gutsbesitzern, das er geschickt zur „Stände-Versammlung im Kleinen“ stilisierte, um „für die Gesammtheit der Einwohner“ zu sprechen und „auch den Stummen des Volkes ein gemeinschaftliches Organ zu geben“ (Görres). Gefolgt wurde er von Vertretern der Handelskammer und des Stadtrats von Aachen, die fünf Tage später für eine „Berücksichtigung der alten Vorzüge der Stadt bey der einzuführenden künftigen Stände-Verfassung“ (StAAc Ob 41-1, 14.2.1818) eintraten sowie von einer Gruppe des rheinischen Adels, die ihrerseits kurz vor Hardenbergs Abreise am 26. Februar 1818 für die Beachtung anderer althergebrachter Rechte plädierte (Weitz; Beusch).
Die Besuche veranlassten den König zu einem sofortigen Verbot des Einsammelns von Unterschriften und Hardenberg zu behördeninternen Nachforschungen sowie vage formulierten Antwortschreiben (LHAK 402 171). Er versicherte den Stadträten, „ganz zur Erfüllung Ihrer Wünsche mit Vergnügen alles beitragen“ (StAK 623 2185) zu wollen und manövrierte sich in eine „Zwangslage“ (Koselleck, S. 302) zwischen den Interessen des Königshauses und der rheinischen Bevölkerung. Für ihre Repräsentanten galt er als Ansprechpartner und Hoffnungsträger, dem die Verantwortung für die politischen Verhältnisse übertragen und angelastet werden konnte (Heinickel, S. 271–299; Borck, S. 15–20).
Dafür sprachen die Erfahrungen, die die Stadträte zuvor mit dem französischen Präsidialmodell und den alleinverantwortlichen Präfekten gemacht hatten sowie die unzähligen behördeninternen Schriftstücke, die mit Hardenbergs Unterschrift versehen waren. Fernab verfassungspolitischer Grundsatzdebatten und dem in Preußen gültigen Kollegialmodellentschied Hardenberg nämlich gerade zu Beginn der preußischen Herrschaft über die verschiedensten Angelegenheiten im Verwaltungsalltag. Seine Anweisungen und Hilfestellungen waren unter verwaltungspragmatischen Gesichtspunkten elementar und lassen sich heute in den umfassenden Aktenmaterialien finden. Er erließ Dienstanweisungen, die bei so manchen Regierungsbeamten unbekannt waren oder für das Landrats- und das Zensoramt gänzlich fehlten. Er entschied über Rechts-, Eigentums- und Personalangelegenheiten, holte Gutachten ein und schrieb Empfehlungsschreiben. Er unterhielt Korrespondenzen mit Amtspersonen, Handelskammern und Armenverwaltungen. Er beteiligte sich am Aufbau des Behördenapparats und traf Entscheidungen, die heute zum Teil noch sichtbar sind. Sie bestanden beispielsweise in seinem Zuspruch für die Gründung eines Provinzialmuseums (das heutige LVR-Landesmuseum Bonn) und für den Bau des Kölner Appellationsgerichtshofs (die Vorgängerinstitution des heutigen Oberlandesgerichtshofs). Er handelte Kompetenzen und Zuständigkeiten etwa zwischen den Oberpräsidenten und den Regierungsbeamten oder zwischen den Polizeidirektoren und Oberbürgermeistern aus. Seine Informations- und Integrationspolitik zeichnete sich einerseits durch ein vergleichsweise hohes Maß an Öffentlichkeit und eine gewisse Kooperationsbereitschaft aus, indem er die Zeitung als Kommunikationsmedium nutzte und den Düsseldorfer Bürgern sogar die einmalige Wahl ihres Bürgermeisters gestattete. Andererseits war er zu keinerlei Kompromissen bereit, als es um die Bestätigung der Bürgermeisterwahl in Koblenz ging und Köln das gleiche Wahlrecht beanspruchte. Kurzum: Er lavierte permanent zwischen den vorgegebenen Integrationsanforderungen und den zum Teil völlig konträren Interessen der zu integrierenden Bevölkerung vor Ort (Hofmeister-Hunger; Cancik S. 36–45; vgl. exemplarisch Klein und Widmann).
In der Rückschau gehört diese Beobachtung sowohl zu den größten Verdiensten als auch zu den größten Herausforderungen des Staatskanzlers. Denn nach einer zweiten erfolglosen Petitionsbewegung gegen die Steuerreform und die preußische Finanzpolitik im Jahr 1819 war seine Gesprächsbereitschaft erschöpft und die Öffentlichkeit enttäuscht. Stellvertretend für „alle großen Städte der Rheinprovinzen“ stellte der Aachener Stadtrat „zu seiner größten Verwunderung“ fest, dass die meisten Wünsche der Rheinländer nicht erfüllt worden waren. Er wiederholte die Forderungen und erfuhr das, was die preußische Integrationspolitik in den darauffolgenden Jahren kennzeichnete: Hardenberg antwortete, dass „das Interesse einer Gemeinde dem höheren Interesse des Staates augenblicklich nachstehen müsste“ (StAAc PRZ 1-1, 18.8.1819, 30.11.1819). Mit dieser neuen Abwehrhaltung hinterließ er eine Lücke im Verwaltungsalltag der Rheinprovinz, die zum vorrübergehenden Rückgang der Petitionsbewegungen führte und erst mit der Einrichtung einer neuen Anlaufstelle, der rheinischen Provinzialstände, geschlossen werden konnte. In Berlin gingen Hardenbergs Reformbemühungen nach seinem frühen Tod im Jahr 1822 indes nicht auf den Landtag, sondern auf den Kronprinzen über, der sie schließlich erst als König in einer anderen, gleichwohl vermittelnden Zwangslage in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder aufgriff (Obenaus, S. 136–149, S. 202; Koselleck, S. 295–302).
(Katharina Thielen, 4.11.2022)
Quellen:
Augsburger Allgemeine Zeitung (AAZ) 1817, URL: https://digipress.digitale-sammlungen.de/calendar/newspaper/bsbmult00000002 (Aufruf am 10.10.22).
Görres, Joseph: Die Uebergabe der Adresse der Stadt Coblenz und der Landschaft an Se. Majestät den König in öffentlicher Audienz bei Sr. Durchlaucht dem Fürsten Staatskanzler am 12. Januar 1818. Als Bericht für die Teilnehmer. Koblenz 1818.
Hetzrodt, Johann Baptist Michael: Ueber die künftige Verfassung der deutschen Länder des linken Rhein-Ufers. Trier 1814.
Hardenberg, Karl August Freiherr von: Über die Reorganisation des Preußischen Staats verfasst auf höchsten Befehl Sr. Majestät des Königs. 12. September 1807.
Historisches Archiv der Stadt Köln (HAStK) Bestand 400 Zentralregistratur des Oberbürgermeisters (vor 1883), A209 Denkschrift der städtischen Deputation an den Staatskanzler von Hardenberg (1818).
Landeshauptarchiv Koblenz (LHAK) Bestand 402, Nr. 171 Acte betreffend die Verhandlungen über die von dem Professor Görres her-ausgegebene Druckschrift wegen Übergabe der Adresse der Stadt Coblenz (1818).
Stadt-Aachener Zeitung (SAZ). Aachen (Beaufort) 1818. URL: zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/titleinfo/6344742 (abgerufen am 07.10.2022).
Stadtarchiv Aachen (StAAc), PRZ 1-1 Ratsprotokolle (1819–1821); OB 41-1 Deputationen und Immediat Vorstellungen (1818–1848).
Stadtarchiv Koblenz (StAK) Bestand 623, Nr. 2185 Protokolle des Munizipalrats 1808–1818.
Stadtarchiv Trier (StATr) Tb 100/6 Ratsprotokolle (1817).
Trierische Kronik. Trier (Schröll) 1818.
Literatur
Beusch, Carl Heiner: Adlige Standespolitik im Vormärz. Johann Wilhelm Graf von Mirbach-Harff (1784–1849). Münster/Hamburg/Berlin 2001.
Borck, Heinz-Günther: Staat ohne Staatsverfassung? Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.): ‚…ein freies Volk zu sein!‘ Die Revolution von 1848/49. Koblenz 1998 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 77), S. 9–46.
Cancik, Pascale: Verwaltung und Öffentlichkeit in Preußen. Kommunikation durch Publikation und Beteiligungsverfahren im Recht der Reformzeit. Tübingen 2007 (Jus Publicum Beiträge zum öffentlichen Recht 171).
Faber, Karl-Georg: Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik. Wiesbaden 1966.
Gall, Lothar: Hardenberg. Reformer und Staatsmann. München 2016.
Heinickel, Gunter: Adelsreformideen in Preußen: Zwischen bürokratischem Absolutismus und demokratisierendem Konstitutionalismus (1806–1854). München 2014 (Elitenwandel in der Moderne/Elites and Modernity 16).
Hermann, Ingo: Hardenberg. Der Reformkanzler, Berlin 2003.
Herres, Jürgen: Die Hohenzollern auf Reisen an Mosel, Rhein und Saar. Zur rheinpreußischen Beziehungsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: Clemens, Gabriele B./Kell, Eva (Hg.): Preußen an der Saar. Eine konfliktreiche Beziehung 1815–1914. Saarbrücken 2018 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte 50), S. 43–55.
Hofmeister-Hunger, Andrea: Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Karl August von Hardenberg (1792 - 1822). Göttingen 1994 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 107).
Klein, Adolf: Hardenbergs letzte Reform. Die Gründungsgeschichte des Rheinischen Appellationsgerichtshofes, in: Rheinische Justiz 57 (1994), S. 9–55.
Koselleck, Reinhart: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. München 3. Aufl. 1981.
Obenaus, Herbert: Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848. Düsseldorf 1984.
Schmitz, Christian: Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806–1819. Eine rechtliche Bilanz zum Frühkonstitutionalismus der Stein-Hardenberg'schen Reformzeit, Göttingen 2010.
Weitz, Reinhold: Der niederrheinische und westfälische Adel im ersten preussischen Verfassungskampf 1815–1823. Die verfassungs- und gesellschaftspolitischen Vor-stellungen des Adelskreises um den Freiherrn vom Stein. Bonn 1970.
Widmann, Marion: Das Museum Rheinisch-Westphälischer Alterthümer in Bonn. Eine Anstalt zur Förderung der „Liebe zum vaterländischen Boden“, in: Breuer, Constanze (u.a.) (Hg.): Die Musealisierung der Nation. Ein kulturpolitisches Gestaltungsmodell des 19. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2015, S. 261-281.
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