Franzosen im Rheinland - Die Kriegsgefangenen 1870/71

Dr. Mario Kramp, Direktor des Kölnischen Stadtmuseums

Im Deutsch-Französischen Krieg entstanden erstmals Massenlager für Gefangene: fast 400.000 Franzosen wurden interniert, im Rheinland – in Mainz, Koblenz, Köln und Wesel – über 90.000, davon in Köln bis zu 19.000. Doch das ist heute fast vergessen. Frankreich gedachte ungern dieser Niederlage, in Deutschland stellten die Weltkriege die Erinnerung daran in den Schatten.

Die Rheinländer fürchteten, die Franzosen würden als Sieger einmarschieren – nun aber kamen sie als Gedemütigte. Man begegnete ihnen mit Mitgefühl – mehr als im übrigen Preußen, wo „der Empfang merklich kühler“ war. Vor allem Kölnerinnen nahmen sich der Gefangenen an.

In Städten durften sich französische Offiziere – in Köln knapp 500 – gegen ihr Ehrenwort, nicht zu flüchten, privat einquartieren. Sie besuchten Theater und Konzerte, den Zoo und die Flora. Sie waren ein Wirtschaftsfaktor, denn sie zahlten für Unterkünfte, stürmten die Bekleidungsgeschäfte und trafen sich mit Kölner Geschäftspartnern des Bankwesens und Champagnerhandels. Als „unfreiwillige Gäste“ wurden sie von wenigen selbsternannten Patrioten angepöbelt – die Mehrheit jedoch lehnte dies ab. Offenbar war es mit der vermeintlichen „Erbfeindschaft“ doch nicht so weit her.

Aus Sicht der Franzosen passten die Rheinländer nicht in das Bild, das sie von den Deutschen – besser: von den Preußen – hatten. Der Offizier Girard war verblüfft, als vor seinem Hotel junge Kölner die Marseillaise sangen. Leutnant Meyret traf sich allabendlich mit zwei Kölnern. Seine frankophilen Trinkgesellen erklärten, hier habe man „immer noch viel Sympathie für Frankreich.“ Für Meyret war der Fall klar: „Hier gibt es zwei verschiedene Bevölkerungen“: Das „rheinische Volk, das französisch war und Frankreich liebte“ – und die Preußen, „die uns hassen und verachten.“

Die Masse der Franzosen wurde im Rechtsrheinischen in Lager gepfercht. Zunächst in der Deutzer Kürassierkaserne, dann in einem riesigen Zeltlager auf der Wahner Heide. Als der Winter kam, ersetzten feste Bauten des Barackenlagers Wahnheide die Zelte. Rund um das Lager boten clevere Geschäftsleute ihre Waren feil, einer eröffnete gar „eine flotte Weinkneipe“: die Geburt des heutigen Kölner Stadtteils Wahnheide. Zusätzlich entstand das Lager Gremberg. Die Lagerstraßen dort trugen französische Namen, ganz wie Pariser Boulevards.

Am meisten litten die Franzosen unter Langeweile. Sie spielten Blinde Kuh und kegelten, sangen eine hier entstandene „Marseillaise von 1870“ und führten in der Kürassierkaserne sogar eine Operette des gebürtigen Kölners Jacques Offenbach auf – was niemand ahnte: in der Nähe der Gräber seiner Familie auf dem jüdischen Friedhof. Kölnerinnen und Kölner strömten nach Deutz in die Vorstellungen.

Es gelang kaum, die Franzosen zur Arbeit einzusetzen – in Köln waren nur 627 außerhalb der Lager tätig: einige in Zuckerfabriken, beim Eisenbahnbau in der Eifel und auf Landgütern, in Mülheim als Schneider, Schuster, Metzger oder Bauhandwerker, in Kölner Brauhäusern in der Tracht des Köbes.

„French prisoners of war in the camp at Wahn, near Cologne“, 1870, Holzstich nach einer Zeichnung von Godefroy Durand, in: The Graphic, London, 22.10.1870, Kölnisches Stadtmuseum, Foto: Kramp

Zwar waren Kontakte mit der Zivilbevölkerung verboten – doch wurde es Mode, nach Wahn zu fahren. „Tout Cologne“ pilgerte dorthin, der Zugang musste beschränkt und sogar Einritt erhoben werden. Man war neugierig auf die Turkos, die von der deutschen Propaganda als unzivilisiert geschmähten Afrikaner aus den Kolonien. Zum ersten Mal in der Geschichte Kölns waren so viele Schwarze zu sehen. Man bestaunte sie wie exotische Tiere. Die Haltung war zwiespältig. Einerseits geprägt von Mitgefühl: Kölnerinnen kümmerten sich um sie, die Presse wetterte gegen diesen „kosmopolitischen Sentimentalitäts-Dusel“. Andere hatten, voll Unverständnis Muslimen gegenüber, Mitleid mit den „armen Heidenvölkern“. Nicht nur solch verdeckten, sondern auch offenen Rassismus gab es: Die Afrikaner seien „grausame Tiger“, die in den Kölner Zoo gehören.

Ende 1870 schlug die Stimmung um. Es kursierten Gerüchte, die Gefangenen in den Lagern von Mainz, Koblenz und Köln planten zu Weihnachten den bewaffneten Aufstand. Die Angst ging um, die Nerven lagen blank. Dabei entkamen während des Kriegs aus Kölner Lagern nur 111 Gefangene, die meisten wurden gefasst, bevor sie die belgische Grenze erreichten.

Mit den Franzosen kamen die Pocken. Sie übertrugen sich durch Anhusten und durch die Kleidung der Infizierten. Abstand war geboten, doch in Köln erfolgte das Gegenteil, der Handel mit Uniformteilen tat ein Übriges. Die Gefangenen und die preußischen Soldaten wurden geimpft, nicht aber die Zivilbevölkerung. Rasch verbreitete sich die Epidemie in Köln. Der Stadtrat war machtlos: eine Impfpflicht existierte noch nicht. Wütende Impfgegner heizten die Debatten an. In den ärmeren Vierteln wütete die Seuche. In Europa fielen ihr eine halbe Million Menschen zum Opfer, danach grassierte sie in den USA und Übersee. Köln kam mit 479 Toten mit einem blauen Auge davon. Hier wurde ausgerechnet die Siegesparade der zurückkehrenden Truppen mit Feierlaune und Umarmungen im Juni 1871 zum Hotspot der Virus-Übertragung. Da waren die Gefangenen längst wieder in Frankreich. Das Lager Wahnheide wurde seit Juni 1871 vom preußischen Militär genutzt, die anderen Lager aufgelöst.

Der französische Offizier Meyret träumte davon, an den Rhein zurückzukehren, seine frankophilen Kölner Freunde wiederzusehen und die Trikolore auf dem Dom zu errichten. Den Deutschen schrieb er ins Stammbuch: „Möge dieses siegreiche Volk bald erkennen, dass sein neues Reich, das auf den Ruinen Frankreichs gegründet wurde, auf Sand gebaut ist!“

 

Literatur

Mario Kramp: 1870/71. Franzosen in Köln. Die vergessenen Gefangenen des Deutsch-Französischen Kriegs, Weilerswist 2021. (siehe Rubrik "Aktuelle Publikationen")

 

Einzelthemen

> Nationale Euphorie am Rhein im Juli 1870

> Reflektionen zum 150. Jahrestag des Deutsch-Französischen Krieges in den Museen Frankreichs und Deutschlands

> Rheinisches Dankeschön für Wilhelm I. 1871

 

 

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Germania. Schmuck- und Ruhmesblatt auf den Krieg gegen Frankreich 1870/71, Johann Baptist Sonderland und August Weber, Mainz 1871, kolorierte Lithographie nach Caspar Scheuren, Preußen-Museum NRW Wesel.