Von Guerilla und Generalen – Friedrich Engels und die preußische Armee
Die Neue Rheinische Zeitung, die Karl Marx in Köln 1848/49 herausgab und für die Engels eine Vielzahl von Leitartikeln beitrug, bildete ein bedeutendes Sprachrohr der radikalen Demokraten. Friedrich Engels berichtete als ihr Korrespondent über die badisch-pfälzische Revolution, nahm 1849 an deren Kämpfen teil, erlebte ihre Niederlage gegen die preußischen Truppen und fällte schließlich ein vernichtendes Urteil über den defizitären Zustand der Revolutionsarmee.
Aus dem Scheitern des revolutionären Aufstandes zog Engels die Konsequenz, dass sich das Kleinbürgertum als Träger der Revolution dauerhaft desavouiert habe. (Dietmar Schössler, Carl von Clausewitz, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 116) Aber wie konnte die militärisch ungeschulte Arbeitermacht gegen professionelle Truppen zum Sieg geführt werden? Engels sah hier ein dialektisches Verhältnis von Politik und Kriegführung als grundlegend an. So wie die Französische Revolution im Kampf gegen die Heere des Ancien Régime eine revolutionäre neue Taktik hervorgebracht und damit gesiegt habe, werde die neue proletarische Revolution ebenfalls eine neue Form des revolutionären Kampfes entwickeln und damit den Sieg erringen.
Friedrich Engels formulierte so als erster den dialektischen Zusammenhang von Revolution und Krieg. Nicht nur werde die revolutionäre Politik den Aufstand auslösen, sondern der mit militärischer Professionalität betriebene Volksaufstand auch die revolutionäre Entwicklung entscheidend voranbringen. Die Durchführung eines bewaffneten Aufstandes sei als Kunst aufzufassen. Hierfür einen Beitrag zu leisten, sah Engels nun als seine Aufgabe an und entwickelte sich zum führenden militärtheoretischen Denker des Sozialismus. In seinem Spitznamen „der General“ schwang durchaus die Achtung der revolutionären Arbeiterschaft für ihren größten Militärsachverständigen mit.
Engels kamen hier seine praktischen Kriegserfahrungen als Adjutant an der Seite August Willichs zugute, der mit seinem Freikorps in der Pfalz 1849 einige Zeit einen erfolgreichen Kleinkrieg praktiziert hatte. In den Folgejahren beschäftigte sich Engels immer wieder mit dem Phänomen des sogenannten „Kleinen Krieges“, den er als Schlüssel des revolutionären Volkskrieges ansah. „Ein Volk, das“, so Engels in seinem Aufsatz „Der Krieg in Italien“, „sich seine Unabhängigkeit erobern will, darf sich nicht auf die gewöhnlichen Hilfsmittel beschränken. Aufstand in Masse, Revolutionskrieg, Guerilla überall, das ist das einzige Mittel, wodurch ein kleines Volk mit einem großen fertig werden, wodurch eine minder starke Armee in den Stand versetzt werden kann, der stärkeren und besser organisierten zu widerstehen…Aber der Aufstand in Masse, die allgemeine Insurrektion des Volkes…das sind Mittel, die nur die Republik anwendet – 1793 liefert den Beweis dafür. Das sind Mittel, deren Ausführung gewöhnlich den revolutionären Terrorismus voraussetzt.“ (zit.n. Institut f. Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Friedrich Engels, Ausgewählte militärische Schriften I, 1958, S. 49ff., Werner Hahlweg, Guerilla, Krieg ohne Fronten, Stuttgart u.a. 1968, S. 79).
Engels betrachtete so den innenpolitischen „terreur“ eines Robespiere und die Erfolge des französischen Revolutionsheeres als zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Im Guerillakrieg sah Engels nationale Motive und soziale Befreiung zusammenfließen. Hier geriet nun auch Preußens Befreiungskrieg gegen Napoleon in seinen Blick. In seinem Aufsatz „Ernst Moritz Arndt“ bezeichnete er es als größten Gewinn jener Jahre, „dass wir uns über den Verlust nationaler Heiligtümer besannen und „uns bewaffneten, ohne die allergnädigste Erlaubnis des Fürsten abzuwarten“. Engels Aufsatz „Preußische Franktireurs“ rühmt den Freikorpsführer Ferdinand von Schill bei der Verteidigung Kolbergs 1807, den Stabschef Blüchers August Neidhardt von Gneisenau als „Mann von Genie“ und die preußische Landsturmordnung von 1813 als „ein mustergültiges Handbuch für Franktireurs“. (zit.n. Hahlweg, ebenda, S. 82f.) Das Volk in Waffen, der Guerillakrieg der Volksmassen ist für Friedrich Engels der Weg, dieses Volk auch „zur Quelle der Staatsmacht“ werden zu lassen. (zit.n. Hahlweg, ebenda, S. 83f.)
Auch die wünschenswerten Eigenschaften eines militärischen Führers der sozialistischen Revolution fand man in den Befreiungskriegen 1813-1815 gegen Napoleon bereits vorgezeichnet. So wertete Friedrich Engels diesen Krieg 1857 in einem Brief an Marx als „halben Insurrektionskrieg“ und bewunderte hier Blüchers „tollkühne Bravour" und dessen „enormes Talent, den einfachen Mann für sich zu begeistern“. Marx wird diese Wertungen 1858 - großenteils in den Formulierungen Engels - für die New American Cyclopaedia übernehmen. (zit.n. Blücher, der Held des Volksheeres, Berlin 1953, S. 29-31)
Kein Wunder, dass auch der preußische Philosoph des Krieges, Generalmajor Carl von Clausewitz (1780-1831), bald in die Optik von Engels und durch ihn auch in die von Marx gerät. Nach dem Studium der historischen Schriften des Generals wendet sich Engels im Winter 1857 dessen Hauptwerk „Vom Kriege“ zu und findet hier eine ähnliche dialektische Auffassung von Politik und Krieg. An Marx schreibt er so Anfang Januar 1858: „Ich lese jetzt u.a. Clausewitz Vom Kriege. Sonderbare Art zu philosophieren, der Sache nach aber sehr gut.“ (zit.n. Schössler, Carl von Clausewitz, S. 120)
Von Marx und Engels ist nachgewiesen, dass sie sich nicht etwa nur oberflächlich mit Clausewitz befassten, sondern eingehend mit dessen Schriften auseinandersetzten. Entlehnungen aus dem Clausewitzschen Vokabular sind zahlreich nachgewiesen und die dialektische Qualität der Denkweise des Generals wurde von beiden anerkannt. Dessen Kernsätze zum Verhältnis von Politik und Krieg - beispielhaft ausgedrückt in der Formulierung, der Krieg sei die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln (Vom Kriege I, 1) - werden die spätere Kriegstheorie des Sozialismus entscheidend beeinflussen. Auch die Clausewitzsche Konzeption der Dialektik von Angriff und Verteidigung wie auch seine Untersuchungen zum Partisanenkrieg werden von Marx und Engels aufgenommen.
Aber nicht nur in den Theorien eines preußischen Generals sahen Marx und Engels eine Ressource der sozialistischen Bewegung, sondern auch in der preußischen Armee selbst.
Zum Hintergrund sei folgendes kurz erklärt: Die in den Befreiungskriegen entstandene preußische Wehrpflichtarmee war in den 1850er Jahren durch eine nur noch sehr reduzierte Ausschöpfung der Wehrkraft in eine tiefe Krise geraten und zwischen 1859 und 1866 durch den Prinzregenten und späteren König Wilhelm l. und dessen Kriegsminister Albrecht von Roon strukturell und quantitativ entscheidend verbessert worden. Die politische Folge war ein schwerwiegender und jahrelang andauernder Verfassungskonflikt. Der 1862 zum Ministerpräsidenten ernannte Otto von Bismarck regierte nun ohne die von der Verfassung vorgeschriebene Budgetbewilligung durch das Parlament, bis die militärischen Erfolge im preußisch-österreichischen Krieg das preußische Abgeordnetenhaus 1866 schließlich dazu veranlassten, diese Bewilligung rückwirkend zu erteilen.
Friedrich Engels ging nun in seinem 1865 erschienenen Aufsatz „Die preußische Militärfrage und die Deutsche Arbeiterpartei“ hart mit der preußischen Bourgeoisie ins Gericht. Sie habe nicht erkannt, dass ihr eine Heeresvermehrung in die Hände spiele und nicht um weitere politische Rechte gerungen.
Die stark vermehrte preußische Armee besitze seit der Heeresreform der 1860er Jahre ein weitgehend bürgerliches Offizierskorps: „Wer die preußische Armee nach der Reorganisation wieder sah, kannte das Offizierkorps nicht mehr. Wir sprechen nicht von Hörensagen, sondern von eigener Anschauung. Der specifische Leutnantsdialekt war in den Hintergrund gedrängt, die jüngeren Offiziere…gehörten keineswegs einer geschlossenen Kaste an, sondern repräsentierten mehr als je seit 1815 alle gebildeten Klassen und alle Provinzen des Staats.“ Die Siege der preußischen Truppen im Deutsch-Dänischen Krieg 1864 schrieb Engels diesem stark bürgerlich- durchsetzten Offizierkorps oder mit den Worten Engels: dem „flotte(n) Auftreten der preußischen Offiziere vor dem Feind“.
Den Qualitätszuwachs, den Engels bei den preußischen Offizieren sieht, attestiert er in gewissem Sinn auch den preußischen Mannschaften und Unteroffizieren. Von der Armee mit ihren eingerückten Reservisten sagt er so: „Wer je Gelegenheit hatte, ein Bataillon erst auf Friedensfuß und dann auf Kriegsfuß zu sehen, kennt den ungeheuren Unterschied in der ganzen Haltung der Leute, im Charakter der ganzen Masse. Die Leute...bringen einen Vorrath von Selbstachtung, Selbstvertrauen, Sicherheit und Charakter mit, der dem ganzen Bataillon zu Gute kommt…Das Bataillon gewinnt militärisch ganz bedeutend, aber politisch wird es - für absolutistische Zwecke - völlig unzuverlässig.“ (zit. n. Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Lawaty (Hg.), Preußen. Deutsche Debatten 18.-21. Jahrhundert, Stuttgart 2018, S. 232, 234)
So erkannten Engels wie auch Marx in der weitgehenden Einlösung der allgemeinen Wehrpflicht und dem starken bürgerlichen Flügel des preußischen Offizierskorps während der 1860er Jahre ein großes fachliches und politisches Modernitätspotential, das, so kann man folgern, unter anderen Vorzeichen auch im revolutionären Kampf eingesetzt werden konnte. Die preußische Armee jener Jahre erschien ihnen so - trotz adliger Reaktion ihren Reihen - auch als Vorreiter des Sozialismus.