Karl Freiherr von Ingersleben – erster Oberpräsident der preußischen Rheinprovinz(en)
Krisen, Krieg und Cholera in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Am 27./28. Juli 1830 befanden sich zahlreiche Menschen in Paris sprichwörtlich und faktisch auf den Barrikaden. Wenige Tage später wirkte sich die französische Juli-Revolution nach dem Sturz des Bourbonen-Königs Karl X. und der Wahl des Bürgerkönigs Louis Philippe auf die angrenzenden Territorien des europäischen Kontinents aus. In den belgischen Gebieten des vereinigten Königreichs der Niederlande kam es zu Unabhängigkeitsbestrebungen, die in der Gründung des belgischen Nationalstaates mündeten. In der nahegelegenen Stadt Aachen, wo man die Geschehnisse „nicht ohne Sympathien für die belgische Revolution“ (Scharte, S. 51) beobachtete, kündigte ein mit der französischen Kokarde geschmückter Postwagen die politischen Veränderungen unmissverständlich an. In der wallonische Textilindustrieregion waren Nationalgrenzen weder materiell, etwa durch Grenzposten und Kontrollen, noch ideell, d.h. im Denken der Menschen, verankert, sodass die revolutionären Ereignisse auch auf Aachen übergriffen. Am 30. August 1830 gingen unzufriedene Arbeitergruppen zu Tausenden auf die Straße und verwüsteten das repräsentative Stadthaus des britischen Maschinenbauers James Cockerill, der seine Fabriken in Lüttich und Verviers unterhielt. Der sogenannte Aachener Aufruhr wurde von einer ad hoc aus der städtischen Oberschicht gebildeten Bürgerwehr mit scharfer Munition beendet und richtete sich gegen eben jene aus vermögenden Fabrikanten bestehenden Oberschicht, die in Zeiten der Preisteuerung und steigenden Armut immer reicher geworden war (Düwell; Althammer, S. 246–255). Im Allgemeinen waren die europäischen Revolutionsbestrebungen um 1830 für die Einwohnerinnen und Einwohner der preußischen Rheinprovinz nichts Neues, hatten die Ältesten unter ihnen doch selbst drei politische Umbrüche in Folge der Französischen Revolution 1789 miterlebt. Ab 1820 konnten sie in Südeuropa gleich fünf neue Revolutionsherde (Spanien, Sizilien, Sardinien, Portugal und Griechenland) beobachten, die sich an Nationalitätsfragen entzündeten und von einflussreichen Militärs, Honoratioren und Geheimgesellschaften sowie unzufriedenen Bevölkerungsgruppen getragen wurden. Im Speziellen wurden die Freiheitskämpfe der griechisch-orthodoxen Minderheiten im Osmanischen Reich sogar von regionalen und überregionalen Griechenvereinen gefördert. Jetzt, im Spätsommer des Jahres 1830, bildete man Vereine, die die polnischen Separatisten in ihrem Kampf gegen Russland unterstützten und rief zu Spenden für die „Opfer der Juli-Revolution“ in Frankreich auf (LHAKo 403 7137, 28.8.1830). Die Gründe für diese Hilfe waren vielschichtig und reichten von der Empörung über das Vorgehen des Militärs und dem Mitgefühl für die Bevölkerung über die Verteidigung freiheitlich-liberaler Ideen bis hin zur romantischen Verklärung der betroffenen Regionen und einer emotionalen Solidarität mit den überwiegend katholischen Aufständischen, deren Schicksal man als konfessionelle Minderheit im protestantischen Königsreich Preußen in gewisser Weise teilte (Illner; Tischler).
In Berlin beobachtete man die politische Lage mit Sorge und verschärfte die Zensur- und Sicherheitspolitik. König Friedrich Wilhelm III. instruierte die Lokalbeamten in den Westprovinzen, „aus Frankreich kommende, sich nicht legitimieren könnende Fremde“ (StATr Tb 6-5 Nr. 2096) sofort abzuweisen und richtete Grenzkontrollen ein. Gleichzeitig erhielt der Konflikt zwischen den polnischen Separatisten und einer auf bis zu 120.000 Mann angewachsenen Armee Russlands im Osten des Königreichs eine neue Dimension durch den Ausbruch der Cholera. Die noch unerforschte Darm-Erkrankung hatte ihren Ursprung in Indien und breitete sich ab 1831 erstmals durch Truppenbewegungen und Einquartierungen von Russland über Polen im preußischen Territorium aus. Preußen verständigte sich daraufhin umgehend mit Russland und Österreich auf einen gemeinsamen Abwehrkampf, der die wissenschaftliche Ergründung der „morgenländische[n] Brechruhr“ (Amtsblatt Köln Nr. 34, 23.8.1831) und ihre praktische Bekämpfung in der Gesellschaft umfasste. Der preußische König richtete eine Immediat-Kommission in Berlin ein, entsandte fachkundige Ärzte zu Forschungszwecken nach Russland, erließ weitreichende Reise- und Handelsbeschränkungen und wies die Oberpräsidenten zur Umsetzung eines Seuchenschutzprogramms an. Das bedeutete zunächst dafür Sorge zu tragen, dass „alle Nachrichten über dieselbe [Cholera] hinsichtlich ihrer Verbreitung oder Unterdrückung über das Sanitäts-polizeyliche-Verfahren, über den Gesundheitszustand der befallenen Orte, über die Zahl der Krankheits-, Sterbe- und Genesungsfälle und der gleichen amtlich und mit historischer Treue […] in den öffentlichen Blättern zur Kenntniß gebracht, dagegen Privatmitteilungen und Abhandlungen diesen Gegenstand betreffend in die öffentlichen Blätter fernerhin nicht aufgenommen werden“ (LHAKo 403 7137, 10.5.1831) sollten.
In der Theorie dienten diese Zensurrichtlinien der Aufklärung der Bevölkerung und der Sicherung von Ruhe und Ordnung. Aus diesem Grund gab die Aachener Regierung beispielsweise eine Cholera-Zeitung heraus, die von dem nach Berlin entsandten Stadtphysikus Joseph Hartung mit Fachwissen und neuen Informationen versorgt wurde (Dettke, S. 65–83; Schmitz-Cliever; Stollenwerk). In der Praxis führten diese Art der Krisenkommunikation allerdings zu unklaren lokalspezifischen Verhaltensregeln auf der Basis widersprüchlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse. So waren die sogenannten Kontagionisten und Miasmatiker der Meinung, die Seuche verbreite sich von Mensch zu Mensch oder über die Luft, wohingegen die Anti-Kontagionisten (letztlich zu Recht) glaubten, dass die Ansteckungsgefahr von einem bestimmten Krankheitserreger ausging und über mangelhafte Hygiene sowie unzureichende Trink- und Abwasserversorgung in den Städten verstärkt wurde. Die Krankheit äußerte sich in unkontrolliertem Brechdurchfall und konnte durch kontraproduktive Behandlungsmethoden wie Räucherungen oder einen Aderlass zu einem schnellen qualvollen Tod führen. Allein in Russland soll im Jahr 1830 fast die Hälfte der 460.000 an der Cholera erkrankten Menschen gestorben sein (Priewer, S. 72–76; Diemer, S. 173; Briese, S. 194–198).
Vor diesem Hintergrund kursierten in der überregionalen Presse entweder Meldungen, die die Krankheitsfälle verschleierten und die Gefahr der vermeintlichen „Armenkrankheit“ (Dettke, S. 256) verharmlosten oder aber mit „schauerliche[n] Ansteckungsanekdoten“ (Dettke, S. 121) ausmalten und zum Beispiel die katastrophale Lage der eingesperrten Bewohnerinnen und Bewohner von Danzig schilderten. Nachrichten über die ersten Infektionen in Frankreich und Großbritannien sowie Gerüchte über Krankheitsfälle in den Niederlanden und Belgien ließen nicht lange auf sich warten und verbreiteten Angst vor der Ausbreitung der Seuche über die Handelsbeziehungen. Heinrich Heine warnte als Auslandskorrespondent für die Augsburger Allgemeine Zeitung vor dem allzu sorglosen Umgang mit der Cholera angesichts zahlreicher „Choleraleichen“ in Paris, die die Krankheit im Karneval verspottet hatten (Priewer, S. 73; Althammer, S. 497).
Überhaupt schienen weite Teile der Bevölkerung die Existenz der Seuche anzuzweifeln oder sie mit dem Willen Gottes und den revolutionären Umbrüchen zu erklären. Auch dem Staat, d.h. der preußischen Beteiligung an der Niederschlagung des polnischen Aufstandes, konnte sie angelastet werden, zumal Gerüchte, Mundpropaganda und religiöse Denkmuster zu diesem Zeitpunkt einen weitaus größeren Einfluss auf die öffentliche Meinung hatten als die unkoordinierte Informationspolitik privater Zeitungskorrespondenten und staatlicher Behörden. Es war zum Beispiel auffällig, dass über den Tod des befehlshabenden preußischen Generals von Gneisenau in der Presse „ausdrücklich bemerkt [wurde], derselbe sey nicht an der Cholera verstorben“ (AAZ Nr. 242 vom 30.8.1831), da sein nicht minder bekannter Stabschef Carl von Clausewitz „nach einem neunstündigen Leiden an der Cholera“ (SAZ Nr. 285 vom 25.11.1831) starb, nachdem er das Oberkommando in Polen wenige Monate später übernommen hatte. Solche und andere Beobachtungen schürten die Gerüchteküche und verleiteten auch die Angehörigen der oberen sozialen Schichten zu metaphysischen Deutungen, indem die Revolutionsangst mit einer unaufhaltsamen Seuchenverbreitung assoziiert wurde. Nach dieser Vorstellung schien die Epidemie die gefürchtete Umwälzung der Gesellschaftsordnung geradezu einzuleiten, weil die Krankheit – ganz im Gegensatz zu vorangegangenen Hunger- und Teuerungskrisen – alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen treffen konnte und sich mit den in der Ratgeberliteratur angepriesenen Desinfektions- und Dampfapparaten nicht aufhalten ließ (Dettke, S. 252–296; Althammer, S. 581–596).
Im Sommer 1831 waren die öffentlichen Diskussionen rund um den Umgang mit der Cholera nicht mehr zu unterdrücken und die katastrophale Situation an der polnischen Grenze nicht mehr zu verheimlichen. Nachdem die ersten Todesfälle – darunter der bekannte Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel – in der preußischen Hauptstadt auftraten, verlegte das Innenministerium den dortigen Sanitätskordon, d.h. die Grenzsperre zur Abwehr der Cholera an die Oder bzw. Elbe. Mit dieser Maßnahme „zur Sicherung der westlichen, noch nicht von der Seuche ergriffenen, Provinzen und des westlichen Deutschlands überhaupt“ (Amtsblatt Köln Nr. 38, Beilage 20.9.1831) wurden die Behörden hinter der Choleragrenze in den letzten Septembertagen 1831 zum Handeln veranlasst. Ihre Aufgaben bestanden in umfassenden Hygienemaßnahmen, der Sicherung der Armenfürsorge und der Bereitstellung von Krankenbetten. Anfallende Kosten mussten die Städte und Gemeinden selbst tragen, da sich das Innenministerium lediglich zur Finanzierung der Grenz- und Quarantänekontrollen bereit erklärte (Stollenwerk, S. 245; Dettke, S. 158–160).
Am Ende der Handlungskette standen somit die Stadträte, die verschiedene Krisenpläne diskutierten und an den Regierungssitzen in Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Köln und Trier horrende Kredite aufnahmen und Armen- bzw. Einkommenssteuern eintrieben, um Cholera-Lazarette in leerstehenden Gebäuden einrichten und potentielle Seuchenfälle fernab der bereits bestehenden und völlig überfüllten Hospitäler behandeln zu können. Allein in der bevölkerungsreichsten Stadt Köln wurde die Zahl der Unterstützungsbedürftigen im Falle eines Choleraausbruchs auf die Hälfte der Bevölkerung, d.h. auf fast 33.000 Personen, geschätzt und 100.000 Informationsblätter „zur Verteilung an jede einzelne Familie“ (Amtsblatt Köln Nr. 38, Beilage 20.9.1831) in Umlauf gebracht. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Düsseldorf konnten die Menschen ein Jahr später selbstständig mit einem Taler dem Verein zur wechselseitigen Versicherung gegen die Folgen der Cholera beitreten und ausgewählte Hinterbliebene absichern. Nur in Aachen war es für diese fortschrittliche Hilfe zur Selbsthilfe zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät (HAStK 410 A2, 12.9.1831; Herres, Klassen; Herres, Zwangssteuer; Althammer, S. 480–485).
In der westlichen Provinzstadt wurden ab dem 3. September 1832 dutzende an der Cholera erkrankte Personen im Dominikanerkloster in der Jakobsstraße behandelt und vor der Öffentlichkeit zunächst geheim gehalten. Obwohl die Seuche seit Juni 1832 in Belgien wütete, hatten Stadtphysikus Hartung und der Stadtrat aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse und der heilversprechenden Schwefelquellen nicht mit einem Seuchenausbruch in der Kurstadt gerechnet und nur wenige Vorkehrungen getroffen. Hartung entschuldigte diese Fahrlässigkeit im Nachhinein damit, dass „der Mensch unangenehme Wahrheiten überhaupt nicht gern glaubt und dieselben oft eben weil er sie fürchtet, leugnet. In Aachen, welches zugleich Badeort und Fabrikstadt [sei], war der Ausbruch der Cholera in mehrfacher Hinsicht nachtheilig, weil außer der Gefährlichkeit der Krankheit an und für sich auch durch die Bekanntmachung ihres Ausbruchs die hier noch anwesenden Fremden verscheucht wurden, und den hiesigen Fabrikanten dadurch in manchen Staaten der Eingang erschwert werden mußte“ (Hartung, S. 22). Alles in allem starben 222 von insgesamt 428 infizierten Menschen in Aachen. Fast 200 weitere gemeldete Krankheits- und 25 Todesfälle kamen im Laufe einer zweiten Cholerawelle 1833/34 auch aus den Regierungsbezirken Düsseldorf und Koblenz hinzu. Anschließend schien sich die politische Bedrohungslage in der Rheinprovinz zumindest vorrübergehend zu entspannen (LHAKo 403 2349; Althammer, S. 468–474 und S. 539–552; Schmitz-Cliever, S. 128–134; Priewer, S. 76–82).
Quellen:
Historisches Archiv der Stadt Köln (HAStK) Bestand 410 Beschlussbücher/Protokolle (1813–1945), A2 Protokolle des Stadtrats (1822–1831).
Amtsblatt der Preußischen Regierung zu Köln (1831).
Augsburger Allgemeine Zeitung (AAZ), 1831.
Landeshauptarchiv Koblenz (LHAKo) 403 Nr. 2349 Ausbruch der Cholera im Regierungsbezirk Aachen 1832–1834. Nr. 7137 Die wegen der Censur der Druckschriften ergangenen Bestimmungen (1822–1832).
Stadt-Aachener Zeitung (SAZ), Aachen (Beaufort) 1831.
Stadtarchiv Trier (StATr) Tb 6-5 Journale (Brieftagebücher) der Stadt Trier (1832).
Literatur:
Althammer, Beate: Herrschaft, Fürsorge, Protest. Eliten und Unterschichten in den Textilgewerbestädten Aachen und Barcelona 1830–1870. Bonn 2002.
Briese, Olaf: Angst in den Zeiten der Cholera, 4 Bde. Berlin 2003.
Dettke, Barbara: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien. Berlin/New York 1995.
Evans, Richard J.: Death in Hamburg. Society and Politics in the Cholera Years 1830–1910. Oxford 1987.
Düwell, Kurt: Die Unruhen der Aachener Textilarbeiter 1830, in: Ders./Köllmann, Wolfgang (Hg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Band 1. Wuppertal 1983, S. 114–125.
Hartung, Joseph: Die Cholera-Epidemie in Aachen in Folge höhern Auftrages beschrieben von Dr. Hartung, praktischem Arzte, Operateur und Geburtshelfer in Aachen. Aachen 1833.
Herres, Jürgen: Cholera, Armut und eine ‚Zwangssteuer‘ 1831/32, in: Kurtrierisches Jahrbuch 30 (1990), S. 161–203.
Herres, Jürgen: ‚Die geringen Klassen und der Mittelstand‘ gehen ‚täglich mehr der Verarmung entgegen‘. Zur Sozialgeschichte der ‚Fabrikstadt‘ Aachen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: ZAGV 98/99 (1992/93), S. 381–446.
Illner, Eberhard: Solidarität der Patrioten. Die Philhellenen- und Polenvereine im Rheinland, in: Dascher, Ottfried/Kleinertz, Everhard (Hg.): Petitionen und Barrikaden. Rheinische Revolutionen 1848/49. Münster 1998 (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen 29), S. 61–65.
Priewer, Helmut: Seuchen im Mittelrheingebiet. Anhausen 2021.
Scharte, Sebastian: Preußisch – deutsch – belgisch. Nationale Erfahrung und Identität. Leben an der deutsch-belgischen Grenze im 19. Jahrhundert. Münster 2010.
Schmitz-Cliever, Egon: Die Choleraepidemie in Alt-Aachen und Burtscheid, in: ZAGV 64/65 (1951/52), S. 120–167.
Späth, Jens: Die erste Bewährungsprobe der Wiener Ordnung: Die südeuropäischen Revolutionen der 1820er Jahre, in: Franz, Norbert/Laux, Stephan/Fickers, Andreas (Hg.): Repression, Reform und Neuordnung im Zeitalter der Revolutionen. Die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa. Trier 2019 (Études luxembourgeoises/Luxemburg-Studien 15), S. 315–348.
Stollenwerk, Alexander: Die Cholera im Regierungs-Bezirk Koblenz (1832), in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte 5 (1979), S. 241–272.
Tischler, Andreas: Die philhellenische Bewegung der 1820er Jahre in den preussischen Westprovinzen. Forchheim 1981.
(Katharina Thielen, 5.9.2022)