Karl Freiherr von Ingersleben – erster Oberpräsident der preußischen Rheinprovinz(en)
Krisen, Krieg und Cholera in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
In März 1848 befanden sich zahlreiche Menschen in den deutschsprachigen Gebieten sprichwörtlich und faktisch auf den Barrikaden. Ein Jahr nach der Revolution brach in Europa die Cholera aus. Am 25. Juni 1849 wurde der erste Todesfall in Köln registriert und rund 1.274 gemeldete Fälle sollten folgen. Die Erforschung der Krankheit war seit ihrem erstmaligen Auftreten zu Beginn der 1830er Jahre nur unwesentlich vorangeschritten. In Preußen gingen die Behörden weiterhin von einer miasmatischen oder kontagionistischen Ansteckungstheorie über die Luft bzw. von Mensch zu Mensch aus, sodass die Infektionsgefahr aus Holland vermittels einer Quarantäne für die Handelsschiffer gebannt werden sollte. Den Armenärzten wurden Räucherungen und das regelmäßige Lüften empfohlen. Die sich mehrenden Krankheitsfälle konnten gleich neben neuartigen Werbeanzeigen für Abwehrprodukte wie Cholerazigaretten oder Duftsäcke in den lokalen Zeitungen nachverfolgt werden. Darüberhinausgehende Maßnahmen blieben zunächst aus, obwohl oder gerade weil man die Gefahr der Pandemie noch klar vor Augen hatte. Da sie allerdings diesmal nicht offiziell bekanntgegeben wurde, machte sich in Köln eine gewisse Skepsis gegenüber dem Seuchenausbruch breit (Diemer, S. 169).
In der Rückschau hatte sich die gesteigerte Informations- und Sicherheitspolitik aus den Jahren 1831/32 nicht bewährt. Für das Innenministerium standen die positiven Effekte kostspieliger Grenzsperren und -kontrollen in keinem Verhältnis zu den negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Stimmung in der Bevölkerung. Abgesehen von der behördeninternen Berichts- und Dokumentationspflicht wurde daher 1849 von einer gesteigerten Krisenkommunikation Abstand genommen. Auch hatten sich die vorangegangenen Isolationsvorkehrungen in den von der Cholera betroffenen Gebieten im Osten der Monarchie als kontraproduktiv und undurchführbar – die bereits erwähnten präventiven Schutzmaßnahmen der rheinischen Stadträte als weitgehend nutzlos erwiesen. Nahezu überall war die Einrichtung von Hospitälern und Quarantänehäusern 1830/31 auf den Widerstand der jeweiligen Anwohnerinnen und Anwohner gestoßen, sodass im Jahr 1849 beispielsweise nur etwa 90 separate Betten für ca. ein Drittel der Cholerakranken im Kölner Hospital zur Verfügung standen und das Krankenpersonal rasch an seine Grenzen stieß. Obwohl die Fallzahlen im Sommer rasant anstiegen und die Mortalitätsraten der ersten Cholerapandemie bei Weitem überstiegen, begünstigte die zunehmende Beschäftigung mit der Krankheit ein immer sorgloser werdendes Verhalten in den zuständigen Verwaltungsbehörden. Je öfter sie beobachtet wurde, je mehr wurde sie „nicht mehr als Katastrophe sondern als gewöhnliche Krankheit wahrgenommen“ und ihre „Ignorierung zum vorherrschenden gesellschaftlichen Verhaltensmuster“ im Rheinland. In Aachen soll der erneute Tod von rund 216 Menschen trotz der Misere von 1832 sogar „praktisch tot[geschwiegen]“ worden sein (Althammer, S. 25–30).
Ein Grund dafür war, dass empirische Studien die vorherrschende Annahme bestätigten, dass sich die unteren sozialen Schichten häufiger mit dem Erreger infizierten als die bürgerlichen Schichten, sodass diesen zunächst eine geringere Handlungsbereitschaft unterstellt werden kann. Für die Stadt Köln wurden solche Forschungsergebnisse durch den Arzt Eduard Lent dokumentiert und sozialtopografisch erfasst. Demnach breitete sich die Seuche von den Bereichen in der heutigen Eintrachtstraße, Achterstraße und Severinstraße gen Westen in der Aggrippastraße und auf dem Griechenmarkt aus. Im Oktober 1849 wurde auch ein Viertel in der Hohestraße und Brückenstraße befallen (Diemer, S. 174–176). Im Vergleich dazu starben am Sitz des Oberpräsidenten der Rheinprovinz in Koblenz im Jahr 1849 insgesamt 111 von 313 (35%) Personen an der Cholera, die hauptsächlich an den dichtbebauten Rändern der Stadt am Ufer des Rheins und der Mosel, in der Görgen-, Castor- und Weißergasse lebten. Nur auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Ehrenbreitstein erfasste der plötzliche Einbruch der Seuche binnen weniger Wochen auch die Oberschicht, sodass hier ein neues Waisenhaus für rund 20 elternlos gewordene Kinder errichtet wurde (Priewer, S. 76f.).
Diese Zahlen sind aus heutiger Sicht kritisch zu hinterfragen, da zahlreiche Krankheitsfälle nachweislich vertuscht wurden. Aus der Sicht der Zeitgenossen schienen sie sich in einer weiteren Choleraepidemie in den 1860er Jahren mitsamt den historischen Begleiterscheinungen zu wiederholen. Nach einer kleineren Epidemie in den 1850er Jahren trat 1866 eine neue Cholerawelle im Kontext des Krieges zwischen Preußen und Österreich auf. Die ältesten Einwohnerinnen und Einwohner der preußischen Rheinprovinz konnten also ein drittes Mal beobachten, wie innenpolitische Krisen und außenpolitische Kriegsereignisse infolge der Diskussionen um den Deutschen Bund und den sogenannten Bruderkrieg mit dem Ausbruch der Cholera zusammenfielen. Abermals wurden nur wenige Sicherheitsvorkehrungen getroffen und der Tod tausender Menschen in Kauf genommen. Eduard Lent und andere fachkundige Beobachter hielten die Verbreitung durch einen Krankheitserreger für immer wahrscheinlicher und besuchten wissenschaftliche Kongresse, die mittlerweile üblich waren und die internationalen Fachdebatten voranbrachten. Doch längst überfällige und in anderen europäischen Regionen bereits eingeleitete pragmatische Lösungen wie die Verbesserung der gesundheitspolitischen Infrastruktur wurden mit Ausnahme weniger Initiativen einzelner Ärzte wie Eduard Lent erst in den 1870er Jahren umgesetzt. Dass sie zur Bekämpfung von Epidemien und Pandemien unumgänglich waren, stellte sich schließlich 1883 heraus, als Robert Koch den Choleraerreger Vibrio cholerae erstmals nachweisen konnte und sowohl den sorglosen Umgang mit der Seuche als auch die dazugehörigen Gerüchte und Interpretationen im Kontext von Krisen und Kriegen beendete (Diemer, S. 176–181; Althammer, S. 23–25).
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Quellen:
Festschrift für die Mitglieder und Theilnehmer der 61. Versammlung deutscher Naturforscher und Aertze herausgegeben im Auftrag der Geschäftsführung von Sanitätsrath Dr. Lent. Köln 1888. URL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN494651199 (Aufruf am 5.9.2022).
Stadtarchiv Wesel (StAW) B9/49 Städtisches Krankenhaus Wesel 7.6.1863–6.1.1888.
Literatur:
Althammer, Beate: Reaktionen angesichts einer tödlichen Seuche in Rheinland und in Katalonien 1831–1867. In: Travers. Zeitschrift für Geschichte = Revue d’histoire 10 Heft 3 (2003), S. 21–35.
Diemer, Sabine: Ein tödlicher Gast. Die Cholera in Köln. In: Deres , Thomas (Hg.): Krank\gesund. 2000 Jahre Krankheit und Gesundheit in Köln. Köln 2005, S. 168–183.
Priewer, Helmut: Seuchen im Mittelrheingebiet. Anhausen 2021.
(Katharina Thielen, 5.9.2022)